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Dienstag, 29. November 2011
Secession in Wien
Wenn man tagelang aus diesem Fin de siècle-Plüsch in Marmor und Gips nicht mehr herauskommt, fängt man langsam an zu begreifen, daß die Absetzbewegung des selbst so plüschigen Klimt dagegen eine programmatische Reduktion und Befreiung darstellen sollte.



“Wenn im alten Rom die Spannung, welche wirtschaftliche Gegensätze stets hervorrufen, einen gewissen Höhepunkt erreicht hatte, dann geschah es wiederholt, dass der eine Theil des Volkes hinauszog auf den Mons sacer, auf den Aventin oder das Janiculum, mit der Drohung, er werde dort im Angesichte der alten Mutterstadt und den ehrwürdigen Stadtvätern gerade vor der Nase ein zweites Rom gründen, falls man seine Wünsche nicht erfülle. Das nannte man Secessio plebis. Die ehrwürdigen Stadtväter waren gescheite Leute, sie schickten dann einen biederen Vermittler zu den Secessionisten, versprachen viel und hielten wenig – und die Secessio plebis war beendet.
Wenn aber eine grosse Gefahr dem Vaterlande drohte, dann weihte das gesammte Volk alles Lebende, das der nächste Frühling brachte, den Göttern als heilige Frühlingsspende – VER SACRUM, und wenn die im heiligen Frühling Geborenen herangewachsen waren, dann zog die jugendliche Schar, selbst ein heiliger Frühling, hinaus aus der alten Heimatstätte in die Fremde, ein neues Gemeinwesen zu gründen aus eigener Kraft, mit eigenen Zielen.
Und weil die Künstlerschar, welche sich freiwillig losgelöst hat aus alten Beziehungen, eine neue selbständige Künstlervereinigung in Wien zu gründen, nicht darum aus dem alten Verbande geschieden ist, weil sie irgendwelche wirtschaftliche Begünstigungen anzustreben hätte [...] oder um sich durch einen modernen Menenius Agrippa hinterdrein wieder beschwatzen zu lassen, hat sie auch nicht durch den Namen „Secession" an die Ursachen, Ziele und den Ausgang der alten Secessiones plebis erinnern wollen.
Weil sie vielmehr nicht ihre persönlichen Interessen, sondern die heilige Sache der Kunst selbst für gefährdet erachtet hat und in weihevoller Begeisterung für diese jedes Opfer auf sich zu nehmen bereit war und bereit ist, und nichts will, als aus eigener Kraft ihre eigenen Ziele erreichen, darum hat sie sich unter das Zeichen des
VER SACRUM gestellt. Der Geist der Jugend, der den Frühling durchweht, er hat sie zusammengeführt.”

(Max Burckhard, Ver Sacrum, 1. Jahrg., 1. Heft, Januar 1898)



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