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Mittwoch, 25. November 2009
Alles eine Frage der Ballistik?
Wendepunkte, welcher Art auch immer, sind die gegebenen Orte, kurz innezuhalten. Verläßt etwas die heimische Abschußrampe, so steigt es auf seiner Flugbahn scheinbar unaufhaltsam in die Höhe, doch erreicht es irgendwann den Scheitelpunkt und steht dort für den einen Moment still, in dem seine Beschleunigungskraft und die Erdanziehung sich die Waage halten - dann neigt es sich und sinkt auf seiner ballistischen Kurve unaufhaltsam wieder der Erde zu. Der Scheitelpunkt aber gaukelt zuvor in seinen Sekundenbruchteilen des Kräftegleichgewichts ein Gefühl der von allem losgelösten Schwerelosigkeit vor, das einem Gefühl unbegrenzter Freiheit entspricht. Man fühlt sich, als sei man aller Kräfte ledig, die einen schieben und an einem ziehen, als habe man die Freiheit, in jede gewünschte Richtung zu schweben oder zu bleiben.

Wir schreiben die Wende zum Jahr 1800, eine Jahrhundertwende. Der Putschist Napoleon Bonaparte hat soeben nach seinem Staatsstreich als Erster Konsul die französische Revolution für gelungen und beendet erklärt und marschiert an der Spitze seiner Volksarmee gegen die Kräfte der Reaktion in Italien ein, im Vatikan besteigt nach Pius “dem Letzten” ein neuer Papst den Thron: Pius VII. Die französischen Truppen des neuen, bürgerlichen Zeitalters schlagen das österreichische Heer des alten Feudalabsolutismus bei Marengo und Hohenlinden, während Beethoven an der Wiener Hofburg seine erste Sinfonie aufführt. Alessandro Volta bereitet mit der Entwicklung der ersten Batterie die Nutzung der Elektrizität vor.
“Man kann wohl mit Gewißheit sagen, daß die Welt noch nie so bunt aussah wie jetzt”, hat kurz vorher ein verarmter junger Poet und Hauslehrer namens Friedrich Hölderlin seinem ins revolutionäre Frankreich geflohenen Freund Ebel geschrieben, der ihm eine Lehrerstelle bei der Bankiersfamilie Gontard in Frankfurt vermittelt hatte. “Aber so soll es sein! Ich glaube an eine künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten, die alles Bisherige schamrot machen wird.”
Schamrot aber war vor allem Frau Gontard geworden, als ihr Mann hinter ihr andauerndes Liebesverhältnis zu dem noch nicht dreißigjährigen Hofmeister gekommen war. Hölderlin fliegt, muß das Haus und Frankfurt verlassen, trifft sich nur noch sporadisch und heimlich mit seiner über alles geliebten und verehrten “Diotima”. Sie steckt ihm Briefe durch die Gartenhecke zu, in denen sie schreibt: “Ich fühlte es lebhaft, daß ohne Dich mein Leben hinwelkt und langsam stirbt.” Tatsächlich erkrankt sie bald an Schwindsucht.

Größers wolltest auch du, aber die Liebe zwingt
All uns nieder, das Leid beuget gewaltiger,

gibt Hölderlin ihrem Schmerz in seiner berühmten Ode mit dem Titel Lebenslauf Ausdruck. Dann fährt er fort:
Doch es kehret umsonst nicht
Unser Bogen, woher er kommt.


Im Jahr des Artilleristen Bonaparte der Lebenslauf als ballistische Kurve? Hölderlin sah allerdings wohl weniger den Bogen der Flugbahn als deren Verursacher vor sich, den Bogen, der Pfeile auf ihre Bahn schickt; denn der im Griechischen so gut Bewanderte kannte diese Metapher von Heraklit, den er auch gleich in der folgenden Strophe zitiert: Aufwärts oder hinab!
"Der Weg hinauf oder hinab ein und derselbe", lautet das 60. Fragment Heraklits, und das 51.: "Sie verstehen es nicht, wie es auseinanderstrebend ineinander geht: gegenstrebige Vereinigung wie beim Bogen und der Leier". Das Bild des Bogens geht also mindestens bis ins 5. vorchristliche Jahrhundert zurück, und das heraklitische “Eine in sich selber unterschiedene” hat Hölderlin schon im Hyperion zum “Wesen der Schönheit” erklärt. Im Lebenslauf aber herrschen andere Gesetze, und Hölderlin kleidet die Unerbittlichkeit der Kräfte, die auf Flugbahn und Leben einwirken, in die strenge Form und die harten Fügungen der asklepiadischen Ode.

Aufwärts oder hinab! herrschet in heil'ger Nacht,
Wo die stumme Natur werdende Tage sinnt,
Herrscht im schiefesten Orkus
Nicht ein Grades, ein Recht noch auch?

Dies erfuhr ich. Denn nie, sterblichen Meistern gleich,
Habt ihr Himmlischen, ihr Alleserhaltenden,
Daß ich wüßte, mit Vorsicht
Mich des ebenen Pfads geführt.

Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen,
Daß er, kräftig genährt, danken für Alles lern',
Und verstehe die Freiheit,
Aufzubrechen, wohin er will.


Kurz zischen wir himmelwärts, hinauf aus dem einen, ungeschiedenen Urgrund, und sobald wir über den Scheitelpunkt hinaus sind, geht‘s wieder abwärts, aber es läuft alles auf eins hinaus, verkünden Heraklit und Hölderlin. Ich glaube, nicht in tröstlicher Absicht, sondern eher in bennscher: Erkenne die Lage!
Hölderlin erkannte die seine ziemlich genau: 1804 schrieb er Hälfte des Lebens. Da war er 34 und auf dem Weg in die geistige Umnachtung. In der sollte er, zuweilen klarsichtige Gedichte schreibend, noch einmal mehr als 34 Jahre verbringen. Seine letzten Zeilen, wenige Tage vor seinem Tod am 7. Juni 1843 hingeschrieben:

Oft scheint die Innerheit der Welt umwölkt, verschlossen,
Des Menschen Sinn von Zweifeln voll, verdrossen,
Die prächtige Natur erheitert seine Tage
Und ferne steht des Zweifels dunkle Frage.


Hatte er seinen Frieden gefunden, oder stand die Frage des Zweifels zwar fern, aber immer noch vor ihm?
Mein Vater hätte heute seinen 90. Geburtstag feiern können, wenn er noch lebte. In seinem Gedenken stehen diese Zeilen. Seine Flugbahn zielte nicht so hoch hinauf wie die Hölderlins; dafür war sie stabiler und trug ein gutes Stück weiter.
Wendepunkte. Woran erkennen wir sie? An einem von leichtem Schwindel begleiteten Freiheitsgefühl vielleicht? Bevor sich der Druck der Schwerkraft mit anfangs kaum spürbarer Hand auf uns legt.

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