Donnerstag, 12. November 2009
Tallinn im Jahr 2000. Eine Momentaufnahme
Obwohl die Hauptstadt Tallinn nur hundert Kilometer von Haapsalu entfernt ist, kamen wir erst im nachmittäglichen Berufsverkehr dort an und schoben uns Stoßstange an Stoßstange langsam Richtung Innenstadt. Tropfen klatschten vereinzelt auf die Windschutzscheibe, es begann zu regnen. Unser erster veritabler Regen auf dieser Reise. Er hörte auch nicht auf, nachdem wir ein dunkles, vergittertes Zimmer in einer Hinterhofpension bezogen hatten und uns auf den ersten Rundgang durch die Altstadt begaben.
Ich war nicht das erste Mal in Tallinn. Doch damals, vor neun Jahren, hatte es einen anderen Eindruck gemacht, was nicht zuletzt am Wetter lag. Gerade mal 2° waren es an jenem Märztag gewesen, und ein eisiger NW-Wind hatte die Georg Ots in weniger als zwei Stunden von Helsinki über die immerhin eisfreie Finnische Bucht der Küste Estlands zugetrieben. Meine finnischen Bekannten hatten schon damals behauptet, Tallinn sei nurmehr ein südlicher Vorort von Helsinki, doch mein Zimmernachbar in der Villa Kivi, ein estnischer Honorarprofessor für japanische Kulturgeschichte an der Universität Helsinki, der auch fließend Deutsch und Englisch sprach, hatte leise dagegengehalten, solche Vielsprachigkeit zum Beispiel sei für seine Landsleute seit altersher Notwendigkeit und Tradition, die von Russen, Deutschen und Skandinaviern jahrhundertelang mitgeprägte estnische Kultur daher in seinen Augen reichhaltiger als die finnische. Jedenfalls war ich so neugierig geworden, daß ich mich spontan zu einem Abstecher in das seit nicht einmal zehn Jahren unabhängige Estland entschlossen hatte.
Kalt also war‘s an jenem Tag, aber auch klar und sonnig, und die Luft knisternd trocken, wie sie es nur an späten Wintertagen sein kann. Das Rot der Ziegeldächer auf den Häusern der Altstadt brannte geradezu gegen den tief, tief blauen Himmel. Das scharfe Licht der nicht sonderlich hoch stehenden Wintersonne modellierte jede Unebenheit aus den weiß geschlämmten Mauern der alten Häuser und erst recht aus den Kalkwänden des Dombergs und Steinen und Fugen der alten Stadtmauer. Nach allem, was man damals über die Plattenbautristesse sowjetischer Städte gehört hatte, war ich überrascht, wie intakt und lebendig das Innere der früheren Hansestadt geblieben war: Ein vollkommen erhaltener spätmittelalterlicher Stadtkern mitsamt ummauertem Burgberg, auf dem sich in einem munter rosa angestrichenen Rokokopalais das Parlament der zweiten unabhängigen Republik der Esten eingerichtet hat. Die wichtigste Bausubstanz scheint überall gesichert und sorgsam restauriert, schrieb ich damals in mein Notizbuch, aber dazwischen bleibt noch so viel Bröckelndes, leicht oder auch weniger leicht Angegammeltes, dass man überall die noch bewohnte, lebendige Stadt und nicht nur ein steriles Museum erlebt. Ja, diese Altstadt ist noch bewohntes Stadtzentrum mit unzähligen kleinen Boutiquen hinter den Fenstern bürgerlicher Wohnhäuser, mit Kneipen in spätgotischen Kellergewölben - und den dazwischengesprengten Glasfassaden der Filialen finnischer Handelsketten. 1:0 für meine finnischen Freunde. Nein, 1:1, denn die historische Tiefendimension dieser seit dem Mittelalter gewachsenen und unzerstörten Altstadt geht dem architektonisch erst im 19. Jh. wurzelnden Helsinki ab. Hier dagegen stehen noch schmale, gotische Handelshäuser aus Zeiten, als deutsche Hansekaufleute im damaligen Reval den Fernhandel über die Ostsee organisierten und der Stadt ebenso lübisches Recht wie plattdeutsche Namen bescherten. Der festeste Kanonenturm der Stadtbefestigung heißt noch heute 'Kiek in de Kök' und birgt in seinen dicken Mauern eine rührend amateurhafte und zugleich sorgsam bewachte Fotoausstellung. In jedem der zahlreichen Geschosse hat sich als Relikt ehedem realsozialistischer Beschäftigungspolitik ein russisches Mütterlein ein winziges zweites Zuhause eingerichtet. Umgeben von liebevoll gehegten Topfpflanzen, die anämische Geiltriebe Licht suchend zu den winzigen Schießscharten vorrecken, hocken sie neben elektrischen Heizelementen auf selbstgehäkelten Sitzkissen und lesen durch dicke Brillengläser. Gehen sie wirklich abends in ein anderes Zuhause oder nicken sie einfach über ihren Büchern ein und erwachen am nächsten Morgen zu einem ebenso stillen wie ereignislosen Arbeitstag? Was geht sie die veränderte Welt draußen vor den Mauern des Museumsturms noch an?
Die Esten nannten Reval nach ihren eigentlichen Begründern stets 'Dänischburg', denn nichts anderes bedeutet die Zusammenziehung Tallinn aus Taanin linna. Außer Dänen und Hansen waren über Jahrhunderte hinweg Ritter des livländischen Deutschen Ordens die Herren der Stadt. Sie erbauten ein Kloster und erweiterten Burg und Stadtmauer auf ihren heutigen Umfang. So bunt gemischt wie die Bebauung der Altstadt sind auch ihre Bewohner. Zwischen den meist eher untersetzt stämmigen Balten und finnischen Tagestouristen, die unablässig ihre Nokia-Kännukkäs ans Ohr halten, flanieren viele elegante Russinnen über das Kopsteinpflaster. Statistisch betrachtet, stammt jeder dritte Passant aus einer der früheren Sowjetrepubliken. Kein Wunder also, dass man hier in einem Restaurant Buchara mit zentralasiatischen Köstlichkeiten und gutem grusinischen Wein bewirtet wird. Und das zu Preisen, für die man bei uns gerade mal amerikanische Junkfood vorgesetzt bekommt.
Ich war nicht das erste Mal in Tallinn. Doch damals, vor neun Jahren, hatte es einen anderen Eindruck gemacht, was nicht zuletzt am Wetter lag. Gerade mal 2° waren es an jenem Märztag gewesen, und ein eisiger NW-Wind hatte die Georg Ots in weniger als zwei Stunden von Helsinki über die immerhin eisfreie Finnische Bucht der Küste Estlands zugetrieben. Meine finnischen Bekannten hatten schon damals behauptet, Tallinn sei nurmehr ein südlicher Vorort von Helsinki, doch mein Zimmernachbar in der Villa Kivi, ein estnischer Honorarprofessor für japanische Kulturgeschichte an der Universität Helsinki, der auch fließend Deutsch und Englisch sprach, hatte leise dagegengehalten, solche Vielsprachigkeit zum Beispiel sei für seine Landsleute seit altersher Notwendigkeit und Tradition, die von Russen, Deutschen und Skandinaviern jahrhundertelang mitgeprägte estnische Kultur daher in seinen Augen reichhaltiger als die finnische. Jedenfalls war ich so neugierig geworden, daß ich mich spontan zu einem Abstecher in das seit nicht einmal zehn Jahren unabhängige Estland entschlossen hatte.
Kalt also war‘s an jenem Tag, aber auch klar und sonnig, und die Luft knisternd trocken, wie sie es nur an späten Wintertagen sein kann. Das Rot der Ziegeldächer auf den Häusern der Altstadt brannte geradezu gegen den tief, tief blauen Himmel. Das scharfe Licht der nicht sonderlich hoch stehenden Wintersonne modellierte jede Unebenheit aus den weiß geschlämmten Mauern der alten Häuser und erst recht aus den Kalkwänden des Dombergs und Steinen und Fugen der alten Stadtmauer. Nach allem, was man damals über die Plattenbautristesse sowjetischer Städte gehört hatte, war ich überrascht, wie intakt und lebendig das Innere der früheren Hansestadt geblieben war: Ein vollkommen erhaltener spätmittelalterlicher Stadtkern mitsamt ummauertem Burgberg, auf dem sich in einem munter rosa angestrichenen Rokokopalais das Parlament der zweiten unabhängigen Republik der Esten eingerichtet hat. Die wichtigste Bausubstanz scheint überall gesichert und sorgsam restauriert, schrieb ich damals in mein Notizbuch, aber dazwischen bleibt noch so viel Bröckelndes, leicht oder auch weniger leicht Angegammeltes, dass man überall die noch bewohnte, lebendige Stadt und nicht nur ein steriles Museum erlebt. Ja, diese Altstadt ist noch bewohntes Stadtzentrum mit unzähligen kleinen Boutiquen hinter den Fenstern bürgerlicher Wohnhäuser, mit Kneipen in spätgotischen Kellergewölben - und den dazwischengesprengten Glasfassaden der Filialen finnischer Handelsketten. 1:0 für meine finnischen Freunde. Nein, 1:1, denn die historische Tiefendimension dieser seit dem Mittelalter gewachsenen und unzerstörten Altstadt geht dem architektonisch erst im 19. Jh. wurzelnden Helsinki ab. Hier dagegen stehen noch schmale, gotische Handelshäuser aus Zeiten, als deutsche Hansekaufleute im damaligen Reval den Fernhandel über die Ostsee organisierten und der Stadt ebenso lübisches Recht wie plattdeutsche Namen bescherten. Der festeste Kanonenturm der Stadtbefestigung heißt noch heute 'Kiek in de Kök' und birgt in seinen dicken Mauern eine rührend amateurhafte und zugleich sorgsam bewachte Fotoausstellung. In jedem der zahlreichen Geschosse hat sich als Relikt ehedem realsozialistischer Beschäftigungspolitik ein russisches Mütterlein ein winziges zweites Zuhause eingerichtet. Umgeben von liebevoll gehegten Topfpflanzen, die anämische Geiltriebe Licht suchend zu den winzigen Schießscharten vorrecken, hocken sie neben elektrischen Heizelementen auf selbstgehäkelten Sitzkissen und lesen durch dicke Brillengläser. Gehen sie wirklich abends in ein anderes Zuhause oder nicken sie einfach über ihren Büchern ein und erwachen am nächsten Morgen zu einem ebenso stillen wie ereignislosen Arbeitstag? Was geht sie die veränderte Welt draußen vor den Mauern des Museumsturms noch an?
Die Esten nannten Reval nach ihren eigentlichen Begründern stets 'Dänischburg', denn nichts anderes bedeutet die Zusammenziehung Tallinn aus Taanin linna. Außer Dänen und Hansen waren über Jahrhunderte hinweg Ritter des livländischen Deutschen Ordens die Herren der Stadt. Sie erbauten ein Kloster und erweiterten Burg und Stadtmauer auf ihren heutigen Umfang. So bunt gemischt wie die Bebauung der Altstadt sind auch ihre Bewohner. Zwischen den meist eher untersetzt stämmigen Balten und finnischen Tagestouristen, die unablässig ihre Nokia-Kännukkäs ans Ohr halten, flanieren viele elegante Russinnen über das Kopsteinpflaster. Statistisch betrachtet, stammt jeder dritte Passant aus einer der früheren Sowjetrepubliken. Kein Wunder also, dass man hier in einem Restaurant Buchara mit zentralasiatischen Köstlichkeiten und gutem grusinischen Wein bewirtet wird. Und das zu Preisen, für die man bei uns gerade mal amerikanische Junkfood vorgesetzt bekommt.
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