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Montag, 15. Dezember 2008
Die Stille der Ameisen (II)
“Die Ameisen in Ogoja waren riesige Insekten, die in zehn Meter Tiefe unter dem Rasen des Gartens ihre Nester anlegten, in denen sie wohl zu Hunderttausenden lebten. Im Gegensatz zu den harmlosen, unkriegerischen Termiten, die uns wegen ihrer Blindheit nichts anhaben konnten und sich nur vom wurmstichigen Holz der Häuser oder von morschen Baumstämmen ernährten, waren die roten Ameisen unerbittlich, besaßen Augen und Beißwerkzeuge und waren imstande, Giftstoffe abzusondern, um jeden, der ihnen in die Quere kam, anzugreifen. Sie waren die eigentlichen Herrscher von Ogoja.
Ich erinnere mich noch sehr deutlich an meine erste Begegnung mit den Ameisen, ein paar Tage nachdem wir angekommen waren. Ich war im Garten, nicht weit vom Haus entfernt, und hatte den Krater, der den Eingang zum Ameisenhaufen anzeigte, nicht gesehen. Ohne daß ich es bemerkt hatte, war ich plötzlich von Tausenden Insekten umgeben ... Ich blieb regungslos stehen, unfähig davonzulaufen, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, der Boden bewegte sich auf einmal, bildete einen Teppich aus Leibern, Beinen und Fühlern, der sich um mich drehte und immer engere Kreise zog, und plötzlich sah ich, wie die Ameisen in meine Schuhe kletterten und zwischen die Maschen der besagten Wollsocken krochen, die mein Vater uns zu tragen zwang. Gleichzeitig spürte ich das Brennen der ersten Bisse, auf den Knöcheln, auf den Beinen. Der furchtbare Eindruck, die panische Angst, bei lebendigem Leib gefressen zu werden. Das dauerte ein paar Sekunden, ein paar Minuten, so lange wie ein Albtraum. Ich erinnere mich nicht mehr, aber ich muß wohl laut gerufen, ja geschrien haben, denn gleich darauf eilte meine Mutter mir zu Hilfe, nahm mich in die Arme und trug mich fort.”
Später erzählte ihm die Mutter ein eigenes Erlebnis mit diesen Ameisen bei einer Visitationsreise mit ihrem Mann, dem Tropenarzt: “Eines Abends kamen die Träger und weckten sie. Sie hatten brennende Fackeln in der Hand, sprachen mit leiser Stimmer und drängten meinen Vater und meine Mutter aufzustehen. Wenn meine Mutter das erzählte, sagte sie, das erste, was sie dabei beunruhigt habe, sei die Stille ringsumher im Wald und das Flüstern der Träger gewesen. Sobald sie aufgestanden war, sah sie im Licht der Fackeln eine Kolonne von Ameisen (die gleichen roten, von Soldaten flankierten Ameisen), die aus dem Wald kam und auf die Hütte zumarschierte. Eine Kolonne, die sich wie ein breiter Strom langsam voranbewegte, ohne haltzumachen und ohne Hindernissen auszuweichen, in schnurgerader Linie, wobei jede Ameise eng an die anderen gedrängt war. Sie verschlangen und zerstörten alles auf ihrem Weg. - Die kreisende Bewegung von Insekten um mich herum spüre ich noch heute, erstarre im Traum und lausche der Stille, einer schrillen, durchdringenden Stille, die furchteinflößender ist als alle Geräusche der Welt. Die Stille der Ameisen.”

(aus: J.M.G. Le Clézio: Der Afrikaner, übersetzt von Uli Wittmann, München: Hanser 2007)

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