Über keine andere Stadt läßt sich der Bogen vom zerschossenen Gaza zurück nach Finnland sinnfälliger schlagen als über Rovaniemi.
Nachdem die finnische Staatsführung im Sommer 1944 bei Stalin auf diplomatischen Kanälen via Schweden die Bedingungen für einen Separatfrieden eingeholt hatte, weil sie einsehen mußte, daß ihre zahlenmäßig so unterlegene und in drei Kriegsjahren stark ausgeblutete Armee einer nochmaligen Offensive der Roten Armee nicht mehr standhalten würde, verlangte die sowjetische Führung, Finnland müsse seine Beziehungen zum Deutschen Reich abbrechen und den Truppen der Wehrmacht, mit denen es bis dahin Seite an Seite gegen die Rote Armee gekämpft hatte, am 2. September ‘44 ein Ultimatum stellen: Deutsche Einheiten, die nach Ablauf von zwei Wochen noch auf finnischem Boden ständen, würden gefangengenommen und interniert werden.
Es war allen Beteiligten klar, daß die deutsche Lappland-Armee, die entlang einer 600 km langen Front vom ostkarelischen Uchta (heute Kalewala) auf dem 65. Breitengrad bis hinauf zur Fischer-Halbinsel an der Barents-See mehr als 200.000 Mann und 20.000 Fahrzeuge verteilt hatte, innerhalb dieser Frist unter keinen Umständen vollständig abziehen konnte. (Wie viel Zeit ist für den Abzug der viereinhalbtausend deutschen Soldaten aus Afghanistan mit heutigen Transportmitteln veranschlagt?) Die finnische Regierung unter Feldmarschall Mannerheim akzeptierte die russischen Bedingungen, und am 5. September ‘44 wurden Kampfhandlungen zwischen finnischen und russischen Truppen eingestellt.
Am selben Tag erhielt das deutsche Armeeoberkommando der 20. Gebirgsarmee in Rovaniemi aus dem Führerhauptquartier Befehl, die für diesen Fall in der ‟Weisung 50" vom 28.9.1943 vorgesehene ‟Operation Birke” eines Rückzugs von der Murmansk-Front einzuleiten. Nach Auskunft des ehemaligen deutschen Verbindungsoffiziers im finnischen Generalstab, General Erfurth, enthielt der Befehl auch die Weisung, auf dem Rückzug durch Lappland die Taktik der Verbrannten Erde anzuwenden. Am 9. September ordnete die finnische Regierung die Evakuierung der Zivilbevölkerung aus Lappland an und stellte Truppen für einen Vormarsch nach Lappland bereit.
Nachdem Hitler am 13. September auch noch die ‟Operation Tanne-Ost”, die Besetzung der Insel Suursalmi vor der finnischen Südküste bei Kotka, befohlen hatte, die finnische Truppen mit sowjetischer Luftunterstützung abwehrten, kam es nach einigen Scheingefechten zwischen den ehemaligen Waffenbrüdern zur Beruhigung der alliierten Kontrollkommission, die das Befolgen der Waffenstillstandsbedingungen überwachte, ab der zweiten Septemberhälfte auch in Lappland zu Kämpfen zwischen den abrückenden Deutschen und nachsetzenden finnischen Verbänden, besonders um wichtige Brücken, die von den Deutschen planmäßig gesprengt wurden.
Das finnische Oberkommando wollte wenigstens die allerwichtigsten Brücken retten und plante überdies, die Deutschen von ihren Rückzugsstraßen nach Nordnorwegen abzuschneiden und sie im Raum Rovaniemi einzuschließen. In der Nacht auf den 1. Oktober ‘44 landete eine erste finnische Division im Hafen von Tornio und versuchte einen Sperriegel nach Westen aufzubauen. Über eine Woche lang lieferten sich Finnen und Deutsche im Raum Tornio heftige Gefechte, auch Kemi wurde stark umkämpft, doch konnten die Deutschen in beiden Orten die Brücken zerstören und dann den finnischen Sperriegel durchbrechen.
Am 4. Oktober hatte der Befehlshaber der Lappland-Armee, Generaloberst Rendulic, ein österreichischer Hitler-Anhänger und Nazi der ersten Stunde, den Befehl ausgegeben, nunmehr ohne Zurückhaltung gegen die Finnen zu operieren und alle Einrichtungen und Gegenstände, die dem Feind von Nutzen sein könnten, zu vernichten. Am Ende hatte die Wehrmacht fast alle 700 Brücken in Finnisch-Lappland und an die 7000 Gebäude zerstört. Am schlimmsten betroffen wurde Rovaniemi, das wegen seiner Brücken, Eisenbahn-, Straßen- und Fernmeldeverbindungen von zentraler strategischer Bedeutung war.
Nach einer persönlichen Unterredung mit Hitler flog am 14.10.44 General v.Hengl von Berlin nach Nordfinnland. Er war dort Divisionskommandeur gewesen, ehe man ihn als NS-Führungsoffizier ans Oberkommando des Heeres berief. Nach der Landung der Alliierten in der Normandie hatte er im Juni ‘44 in einer Rede auf der NS-Ordensburg Sonthofen von den Offizieren gefordert, sie müßten ihre Soldaten zum ‟unbändigen Vernichtungswillen und zum Hass” erziehen. Hengl kam mit der Vollmacht, dem Befehlshaber der Lappland-Armee Weisungen für den Rückzug zu erteilen, und er zögerte nicht, davon Gebrauch zu machen. Als erstes befahl er das Absetzen aus der Rovaniemi-Stellung, die von der 6. SS-Gebirgsdivision gehalten wurde. Am 15. Oktober flogen im Bahnhof der Stadt mehrere Munitionszüge in die Luft. Die deutsche Seite behauptete später, sie seien von sowjetischen Fliegern in Brand geschossen worden. Jedenfalls griff das Feuer auf die vorwiegend aus Holzhäusern bestehende Bebauung über und vernichtete 90 Prozent aller Gebäude der Stadt. Als am 16. Oktober finnische Truppen anrückten, standen nur noch Schornsteine und die ausgebrannten Ruinen von ein paar Steinhäusern.
Erbittert setzten die Finnen den Deutschen nach, die vom 19. Januar noch bis zum 25. April 1945 bei Kilpisjärvi eine letzte Stellung auf finnischem Boden hielten, ehe sie sich ganz nach Norwegen zurückzogen.
Noch im Jahr 1944 erhielt Alvar Aalto den Auftrag, zusammen mit zwei Kollegen Rovaniemi wieder aufzubauen. Als Muster für den Straßenverlauf legten die Architekten der neuen Stadt die Form eines Rentiergeweihs zugrunde, und Aalto entwarf das bis heute eindrucksvolle Ensemble von Rathaus, Stadtbücherei und Lappia-Kulturhaus. Seit langem ist Rovaniemi wieder unbestritten die Hauptstadt von Finnisch-Lappland mit etwa 60.000 Einwohnern, einer florierenden Universität, dem sehenswerten Arktikum, das wie eine lange, gläserne Kompaßnadel am Ufer des Ounasjoki aus dem Boden wächst und direkt nach Norden zum Polarkreis weist, und einem Stadtgebiet von der dreifachen Größe Luxemburgs.
Ja, es gibt außerhalb der Stadt dieses alberne Touristendorf mit dem Postamt des Weihnachtsmanns und weiterem X-mas-Klimbim. Als wir dort vorbeikamen, konnte man sein eigenes Wort nicht verstehen. Kampfjets der finnischen Luftwaffe übten Tiefflüge und Luftkampf gleich jenseits der Straße und stahlen dem Rentiergespann des Weihnachtsmanns am Himmel überschalldröhnend die Schau. Finnland demonstrierte Abwehrbereitschaft gegen Putins Rußland. Finnlands Kriege sind bei den Finnen ebenso wenig vergessen wie der Hitler-Stalin-Pakt, und man beobachtet den wiedererstarkten Nachbarn im Osten, mit dem man eine fast 1300 km lange gemeinsame Grenze hat, nach wie vor mit Argwohn. Doch wie jüngste Umfragen zeigen, wäre auch nach Ausbruch der Krise in der Ukraine nicht einmal ein Viertel aller Finnen für einen Beitritt Finnlands zur NATO zu haben. "Finnland überlebte den Kalten Krieg wegen seiner Politik der Neutralität", erklärte Finnlands Verteidigungsminister Haglund im Frühjahr erst der Welt. Und neutral und wachsam auf die sprichwörtliche eigene Zähigkeit und Stärke (sisu) bauend will es auch weiterhin bleiben.
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