Kürzlich unter dem Eindruck noch von Finnland und "Waldgang" als Kontrapunkt einen sehr düster eindrucksvollen russischen Film gesehen: Sibirien, Monamour. Gedreht wurde er letztes Jahr an der Mana. Sie entspringt in den Sajanbergen südwestlich des Baikalsees und mündet bei Krasnojarsk in den Jenissei. Unglaublich schöne Landschaftsaufnahmen; und obwohl kaum ein größerer Gegensatz denkbar ist, dachte ich an die dunkle Spätherbst- und Winterstimmung des Films zurück, als ich dieser Tage durch Dieffenbach-, Grimm-, Graefe- und andere Straßen am Urban durch Kreuzberg lief.
Viel schlimmer kann Krasnojarsk auch nicht sein.
"Det is Balien, wa?!" - Hansi Hinterseer und das Tiroler Echo. Und die Opas von Deep Purple als Vorgruppe zum Anheizen. Und obendrüber steht: "Wir plakatieren Kultur".
Ja, das ist Berlin, wie es singt und lacht.
Die aktuelle Novemberluft – das ist für mich die soziale Temperatur Berlins rund ums Jahr.
Kreuzberg, Du inzwischen mit deinen Fair-Trade-Läden, Bio-LPG’s und jungen Akademikerfamilien mit Bakfietsen für die Kinderschar und polnischen Putzfrauen im dritten Hinterhaus, mit scheußlicher “Britfood”, Saftläden, schwulen Backstuben, Ach-so-Alternativcafés, eurem “kleinen Italiener an der Ecke”, von Türken der dritten Generation geführt, mit Vollwert-Partyservice, aber Psychotherapeutenpraxen in jedem siebten Haus am Kanal und gelegentlich ein paar Spritzen im Hauseingang – all das stößt mich unendlich ab. Genauso dein gewursteltes Sich-Einrichten in diesem auch noch irgendwie stolz so genannten “Kiez”, in deiner pseudoheilen Parallelwelt, aus der nie ein wirkliches Miteinander wird. Es ist doch schon wikipedianotorisch, wie fein säuberlich man weiterhin auf Separation achtet:
“Im östlichen Teil der [Dieffenbach-]Straße dominiert eine türkische [sic] geprägte Bevölkerung das Straßenbild, Bewohner mit arabischem Migrationshintergrund sind selten, während westlich der Graefestraße deutsche oder westeuropäische Bewohner in der Regel unter sich sind.”
Und nicht einmal die sind sich untereinander grün. Neuerdings beschimpfen deine “Alteingesessenen”, die erst nach dem Mauerfall aus Vlotho oder Lippe-Detmold herzogen, die nach ihnen Kommenden als “Schwaben”, die nur die Mieten und Immobilienpreise ruinieren. Schöne Toleranz und Weltoffenheit! Frag sie, wann sie das letzte Mal nur allein in einem anderen Teil der Stadt wie Steglitz oder Zehlendorf waren! Ja, was soll man denn da? Der Nabel der Welt ist doch “Mitte” (mehr braucht man ja gar nicht zu sagen) und eben Kreuzberg.
Aber wieviel Verdrängungsleistung ist notwendig, um den ganzen Schmuddel und Dreck auf den Straßen und Plätzen täglich zu übersehen, vor der Häßlichkeit der taubenverschissenen Mietskasernenfassaden und Trottoirs ebenso die Augen zu verschließen wie vor allem vor den auffällig Ver- und Gestörten, den Gescheiterten mit den verheerten Gesichtszügen und den Kaputten unter den Kapuzenpullis, die einmal schwarz waren, mit den unstet ausweichenden Blicken, von denen vielleicht schon bald einer Amok läuft? Wer könnte es ihm eigentlich verdenken?
Schönen 1. Advent auch!
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