Obwohl sich die christlichen Missionswerke gern als humane Zufluchtsorte gegenüber den staatlichen Erziehungslagern (und erst recht gegen die “schrecklichen” Zustände im wilden, heidnischen Busch) positionieren möchten, enthalten solche Abgrenzungen vor allem eine Menge Heuchelei, denn zum einen gingen staatliche und kirchliche Maßnahmen von Anfang an oft genug Hand in Hand, und zum anderen sind die seelischen Grausamkeiten, die die Missionare in Form ihrer Dauergehirnwäsche an den Schwarzen verübten, kaum subtiler, in ihren Folgen jedoch ebenso verheerend gewesen wie der physische Zwang und die Gewalt von weltlicher Seite.
“In the end they created a group of people who lost their roots and did not belong, nor were accepted, by either white or black societies.” (Klaassen)
Die Hermannsburger Mission im Outback ist keine Ausnahme, sondern ein prominentes Beispiel unter anderen wie Kahlin Compound oder Moore River und Carrolup in Westaustralien, dem “kleinen Gulag von Internierungslagern”, wie Lindqvist schreibt.Um die Eingeborenenstämme im neulich vermessenen Zentrum des Kontinents zu kontrollieren und die wichtige Telegraphenleitung zu schützen, richtete die Regierung Südaustraliens nach 1872 bei den ausreichend Wasser führenden Alice Springs ein Versorgungslager für Aborigenes ein. Zu dessen Leitung wurde der Hermannsburger Georg Adam Heidenreich aus Thüringen als Superintendent berufen, der 1866 mit der ersten Lieferung deutscher Missionare nach Adelaide gekommen war und eine Pfarrstelle in Bethanien im Barossa Valley angenommen hatte. 1875 stellte er mit seinen frisch aus Hermannsburg nachgekommenen Kollegen Kempe und Schwarz einen großen Viehtreck zusammen und machte sich auf den Weg. Von der aufgegebenen Station am Lake Hope nahmen sie nach längerem Zwischenaufenthalt die Schafe mit (bestimmt zur großen Freude von Heinrich Vogelsang und Frau) und zogen – wegen Wasser- und Futterknappheit in mehreren Abteilungen – langsam weiter nach Norden zum Finke River. Erst im Juni 1877 fanden sie am Fluß einen für ihr Vorhaben geeigneten Ort, an dem sie mit dem Bau der ersten Häuser begannen. Im nächsten Jahr kam Missionar Schulze mit drei Handwerksgehilfen und den Bräuten von Schwarz und Kempe nach. 1879 wurde der Station offiziell der Status als Versorgungslager und Schulort für Aborigenes zuerkannt. Im nächsten Jahr ließ Kempe bereits eine von ihm auf Aranda verfaßte Lesefibel drucken.
“Was die deutschen Missionare am meisten von britischen unterschied, war ihr schlechtes Englisch”, schreibt Regina Ganter von der Griffith University in Brisbane auf der Seite ihres Forschungsprojekt “German Missionaries in Queensland”.
“Und daraus ergab sich, daß sie eher bereit waren, in den Sprachen der Eingeborenen zu predigen und zu unterrichten.” Zumal die Bereitschaft dazu ohnehin bis auf ihren Konfessionsgründer Luther zurückging. 1891 wurde in Hermannsburg ein 150 Seiten starkes Buch mit Bibeltexten, Katechismus, Gebeten und Kirchenliedern auf Aranda gedruckt. Danach aber gab auch Kempe auf, der im selben Jahr seine Frau und einen Sohn verloren hatte. Schwarz war 1889 in den Süden zurückgekehrt (und Heidenreich hatte es vorgezogen, seine Leitungstätigkeit gleich wieder dort auszuüben).
1894 verließ der letzte Hermannsburger die Station und die Immanuel Synode übernahm in Zusammenarbeit mit der Neuendettelsauer Missionsgesellschaft die Station am Finke River. Sie schickte ihren Missionar Carl Strehlow, seit zwei Jahren an der Bethesda-Station in Killalpaninna tätig, und der sture Pommer blieb bis zu seinem Tod 1922.
Sehr schnell lernten er und seine Frau Frieda die Sprache der Aranda, was Strehlow bald in die Lage versetzte, Gillen und Spencer mit wichtigen Einblicken und Beobachtungen zu versorgen. Eins aber teilte er nicht mit Spencer: dessen sozialdarwinistischen Blick auf die angeblich zum Aussterben verurteilten Objekte ihrer Studien. Entsprechend kritisch las er dessen und Gillens Buch und entschloß sich, seine eigenen Beobachtungen zu publizieren. 1907 erschien in Frankfurt der erste Band von Die Aranda- und Loritja-Stämme in Zentral-Australien, in dem etliche Aussagen von Spencer/Gillen kritisch infragegestellt wurden. Sieben weitere Bände sollten bis 1920 noch folgen.
Spencer, die international gerühmte Koryphäe, tat seinerseits alles, um die Kenntnisnahme und Anerkennung von Strehlows Werken zu hintertreiben. In der englischsprachigen Welt gelang ihm das weitgehend; im deutschen Sprachraum und in Frankreich aber fanden Strehlows Werke Beachtung. Sowohl Lévi-Strauss’ Lehrer, der Philosoph und Ethnologe Lucien Lévy-Bruhl (La mentalité primitive, 1922), als auch Elias Canetti stützten sich auf sie.
Spencer hatte die Missionsstation in Hermannsburg als gescheitert schließen lassen wollen, die Strehlows aber verbesserten im Lauf der Jahre die Lebensbedingungen der unter ihnen lebenden Aborigenes, behauptet jedenfalls ihr Enkel John Strehlow in seiner umfangreichen Biografie über die beiden (The tale of Frieda Keysser, 2011)
Im Bericht der Australischen Menschenrechtskommission, Bringing them home, steht anderes zu lesen. Etwa eine Beschreibung der Schlafsäle für die Kinder in der Mission aus dem Jahr 1923:
“One [dormitory], measuring 22 feet by 12 feet is used as a sleeping room for about 25 boys. It has three small barred windows and a small closet at one end. The floor is sanded, and on this the boys sleep with a bluey between each two of them. They are locked in at sundown and released at 8 o'clock in the morning. The other is somewhat larger... The floor of this is also sanded, and on it about 30 girls sleep. The hygienic state of these dungeons during the extremely hot summer nights can better be imagined than described. The sand is renewed once every two weeks, which is quite necessary.”
Als wir Hermannsburg erreichen, bietet es ein genauso trostloses Bild. Zuerst fahren wir an einer Art Township vorbei, verwahrloste, flache Häuser zwischen Büschen und unter Eukalypten geduckt, viele halb ausgeschlachtete Autos in den Gärten, Glasscherben, ausgebaute Motoren, weggeworfene Lappen, alte Reifen; ein Drahtzaun darum herum und ein paar offizielle Schilder daran, die Fotografieren verbieten. Das Ortszentrum besteht aus einer Tankstelle mit angeschlossenem Supermarkt, beide miteinander vergittert, verdrahtet und verrammelt wie ein Sicherheitstrakt. Überwachungskameras an jeder Ecke, Taschenkontrolle am Ausgang, Verbotsschilder für Alkoholverkauf und -konsum. Auch hier sehen uns die Aborigenes, die aus dem Laden kommen oder ihre Pickups betanken, nicht an. Keine ostentative Abwendung, sondern Blicke zur Seite, zu Boden oder ins Unbestimmte irrlichternd, als wären wir gar nicht da. Dabei sind wir außer dem Tankwart die einzigen sichtbaren Weißen und natürlich sofort als Fremde und Touristen kenntlich, und ich bin sicher, daß wir sehr genau observiert werden.Der Tankwart ist ein geduldiger junger Kerl, der seine liebe Mühe damit hat, alles im Blick zu behalten, den Ein- und Ausgang am Laden, die Trauben schwarzer Kinder, die das Süßigkeitenregal umlagern, einkaufende Frauen, die anschreiben lassen wollen, und die Männer, die draußen tanken. Trotzdem erklärt er uns zwischendurch, welche Pisten in der Umgebung befahrbar und welche gesperrt sind, denn auch für den Straßenzustandsbericht hier draußen ist er anscheinend zuständig.
Die ehemalige Mission ist ein ebenfalls eingezäunter, leerer und staubig roter Platz mit ein paar älteren, weiß gekalkten einfachen Steinhäusern, Kirche, Wohnhaus, Schmiede, das älteste Gebäude von 1882. Kein Mensch ist auf dem Missionsgelände zu sehen. Das Ganze wirkt in der stechenden Hitze nicht einmal museal, sondern nur aufgegeben, verlassen.
Schon als Carl Strehlows jüngster Sohn Theo 1974 noch einmal nach Hermannsburg zurückkehrte, wunderte er sich über die Verhältnisse dort. Um diese Zeit hatte man im weißen Australien erstmals begonnen, über die Ansprüche der Aborigenes als traditionelle Besitzer des Landes nachzudenken und in Hermannsburg den Eingeborenen mehr Mitspracherechte bei der Verwaltung der Gemeinde eingeräumt. Doch die nutzten viele von ihnen, um die Gemeinde einfach zu verlassen und ihre traditionelle Lebensweise wieder aufzunehmen. Ted Strehlow staunte nicht schlecht, als ein früher mit ihm eng befreundeter Aborigene, der in der Gemeinde sogar das Amt eines Predigers bekleidete, ihm plötzlich totemistische Verse (tjilpa)vorsang, die seit langem als ausgestorben galten. “The culture, even among Christian converts, had been secretly passed on”, schreibt Barry Hill in seiner Strehlow-Biographie Broken Song. Und so ist das nahezu unbeachtet dastehende Ensemble der Missionarshäuser in Hermannsburg heute weniger ein Denkmal für den Erfolg weißer Missionsbestrebungen als vielmehr eines für das Beharrungsvermögen der Aborigenes im verborgenen Festhalten an ihrer eigenen, uralt überlieferten Kultur.
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