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Samstag, 7. November 2009
Cäsarenmord ist keine Revolution. Die letzte Fahrt der Romanows
Ja, die Zeit “wahrer Reisen”, wie sie auch Lévi-Strauss gern unternommen hätte, ist vielleicht längst vorbei. Aber wo waren wir stehengeblieben? An einem Bahnsteig, an dem seit Jahren kein Zug mehr fuhr. Standen da wie bestellt und nicht abgeholt. In Haapsalu, wo der letzte Zar ein einziges Mal den speziell für ihn errichteten Bahnsteig an der eigens für seine Kurreisen gebauten Bahnlinie betreten hatte. Auch das wären für Lévi-Strauss sicher keine “wahren Reisen” mehr gewesen. Seine einzige Reise ins Ungewisse (jedenfalls anfangs für ihn selbst) trat Zar Nikolaus II. zehn Jahre nach seinem Aufenthalt in Haapsalu an, im August 1917, doch da war er nicht mehr Zar, sondern bloß noch der Häftling Nikolaj Alexandrowitsch Romanow.
Am 2. März 1917 (nach altem russischen Kalender) hatte er - auch im Namen des minderjährigen Zarewitsch - zugunsten seines Bruders Michael auf den Thron verzichtet. Seine Abdankung hatte vor allem militärische Gründe, denn Zar Nikolaus hatte als Oberbefehlshaber versagt. Die Offensiven seiner Armee waren unter so großen Verlusten gescheitert, daß die Soldaten zu meutern begannen, deutsche und österreichische Armeen drangen in breiter Front auf russischem Boden vor, in Petersburg kam es zu Hungerrevolten, Arbeiter und Soldaten solidarisierten sich und bildeten eine revolutionäre Gegenregierung. Am 1. März hatte der Petersburger Sowjet mit seinem Befehl Nr. 1 die Kontrolle über die Armee übernommen, und der neue Zar Michael trat unter seinem Druck schon am 3. März ebenfalls zurück. Zwei Tage später wurde die Zarenfamilie in ihrer Residenz Zarskoje Selo unter Arrest gestellt. Am 1. August 1917 deportierte die provisorische Regierung unter Kerenski sie in einem versiegelten Zug des Roten Kreuzes unter japanischer Flagge nach Sibirien, wie vorher so viele, die das zaristische Regime selbst dorthin in Verbannung geschickt hatte. Nach vier Tagen Eisenbahnfahrt und einem weiteren zu Schiff auf dem Irtysch traf sie in Tobolsk hinter dem Ural ein. Es war ihre definitive Reise, von der sie nicht wieder zurückkehren sollte.
;“Die Republik, wie wir sie aus Frankreich kennen, basiert auf dem Individuum, auf der Person, die kraft ihrer geistigen Kapazitäten gewählt und erhoben wird. Die Monarchie ist dagegen fleischlich, es ist die Abstammung, das Blut, die ununterbrochene Kette der Erbfolge, auf die es ankommt. Zar Paul wurde von seinen eigenen Offizieren ermordet, Alexander II. von politischen Gegnern, aber keiner dieser Morde erschütterte den Fortbestand der Dynastie. Beim Eintreffen des Todes wurden sie vom nächsten Namen in der Erbfolge abgelöst, bei einem unnatürlichen Tod ebenso wie auf dem Sterbebett. Der Cäsarenmord ist keine Revolution, er ist eher ein Mechanismus der Autokratie, nur durch ihn können sich das Volk und die Dynastie des defekten Körpers entledigen, des geisteskranken Alleinherrschers. -
Es war die zweite Abdankung, der Bruch der Erbfolge, der das Zarenhaus zu Fall brachte.”

Diesen überlegenswerten Gedanken legt der Norweger Tor Bomann-Larsen dem Titelhelden seines historischen Romans Livlegen (Der Leibarzt) in den Mund, Sergej Botkin, dem leibhaftigen Leibarzt des letzten Zaren. Botkin war entweder ein unglaublich pflichtbewußter Mensch oder ein so überzeugter Monarchist, daß er anscheinend freiwillig im engsten Kreis der Zarenfamilie blieb, mit ihr nach Sibirien ging und folgerichtig mit ihr im Keller des Ipatjow-Hauses erschossen wurde. Bomann-Larsen schreibt seit vielen Jahren die Geschichte des norwegischen Königshauses und ist inzwischen beim fünften Band angelangt. Mit Monarchien kennt er sich also aus. Vielleicht hat aber niemand mit der gleichen Folgerichtigkeit seinen Gedanken über das, was den Fortbestand autokratischer Monarchien sichert, begriffen und zu Ende geführt wie ausgerechnet die geschworenen Feinde des monarchischen Prinzips, die Kommunisten.
Nach dem Erfolg der Oktoberrevolution wollte der Oberste Sowjet dem Zaren in Moskau den Prozeß machen. Der mit seiner Rückführung beauftragte Kommissar Jakowlew brachte ihn und seine Familie im Frühjahr 1918 jedoch zunächst nur bis Jekaterinburg am Osthang des Urals. Aufgrund der gespannten Lage hielt der Oberste Sowjet einen öffentlichen Prozeß in Moskau inzwischen aber für zu riskant, und so beschloß er im Juli die Liquidierung der Zarenfamilie, ehe sie womöglich von den Jekaterinburg einkesselnden Einheiten der konterrevolutionären Weißen Armee befreit würde. Eingedenk ihres eigenen Prinzips, daß die Monarchie weiterlebt, so lange es noch irgendwo einen legitimen Erbfolger gibt, mußten alle Mitglieder der Dynastie getötet werden.
In der Nacht auf den 4./17. Juli 1918 wurden sämtliche Mitglieder der ehemals kaiserlichen Familie Romanow samt ihrem engsten Gefolge im Keller des Hauses, in dem man sie gefangen hielt, erschossen. Das Gemetzel dauerte fast zwanzig Minuten, weil die Zarin und ihre blutjungen Töchter heimlich so viele Juwelen in ihre Kleider eingenäht hatten, daß die Kugeln an ihnen abprallten und die danach eingesetzten Bajonette kaum durchdrangen. Es muß eine grauenhafte Schlachterszene in dem von beizendem Pulverrauch, Schweiß, Schreien, Stöhnen und Blut erfüllten Kellerraum gewesen sein.

Mit solchen Gedanken stand ich unter dem frisch gestrichenen Bahnsteigdach, unter dem Zar Nikolaus II. mit seiner Familie vor gut hundert Jahren unter “großem Bahnhof” seinem Luxuszug mit acht prachtvoll ausgestatteten Salonwagen entstiegen war. Der persönliche Wagon in der Zugmitte enthielt nicht nur das Schlaf-, nicht -abteil, sondern -zimmer des Zarenpaars, das Boudoir der Zarin und ein Arbeitszimmer für den Zaren, sondern auch ein weiß gefliestes Badezimmer mit einer nach dem Pendolino-Prinzip überlaufsicher gelagerten Badewanne.
Heute standen nur ein paar massige, graue Dampfloks aus der Sowjetzeit auf den verwaisten Gleisen der in den neuen, kapitalistischen Zeiten stillgelegten Strecke. Kein Wunder also, daß es eine Weile dauerte, bis wir von dort weg kamen.

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