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Montag, 21. Juli 2008
Das burgundische Brüssel
Hypertroph, aufgeblasen, übertrieben, ist das Wort, das mir bei vielen Brüsseler Ansichten in den Sinn kommt. Bescheiden hat es natürlich angefangen: als Bruocsella, “Wohnsitz im Sumpf”, wurde das spätere Brüssel erstmals 966 in einem Diplom Kaiser Ottos I. erwähnt. Im Besitz der Löwener Grafen stieg es im hohen Mittelalter zur Hauptstadt des Herzogtums Brabant auf, während seine Bürger im Handel mit den berühmten flandrischen und brabantischen Tuchen reich und reicher wurden. 1383 bzw. 1430 fielen Brabant und mit ihm Brüssel an die Herzöge von Burgund aus dem französischen Königshaus der Valois. Herzog Philipp, der sich von seinen Hofliteraten so lange der Gute nennen ließ, bis es ihm als Beiname anhing, machte Brüssel zur Hauptstadt seines ausgedehnten Zwischenreichs von Burgund, das von Nordholland bis kurz vor Lyon reichte, und damit zur kulturell tonangebenden Stadt Europas. Was man in Brüssel an Gespreiztheiten zur Schau trug, machte in ganz Europa als Burgundische Mode und später als Spanisches Hofzeremoniell Schule.
“Die zügellose Übertreibung, die die französisch-burgundische Tracht ein ganzes Jahrhundert lang kennzeichnet, ist ohne Beispiel”, schreibt der Mennonitensohn Huizinga in seinem Herbst des Mittelalters und mokiert sich besonders über die Männermode Burgunds, die langen Schnabelschuhe, die sich die burgundischen Ritter abschneiden mussten, um aus der Schlacht fliehen zu können, die “eingeschnürten Taillen, die ballonartig gepufften Ärmel, das kurze, kaum die Hüfte bedeckende Wams, die hohen, spitzen oder zylinderförmigen Mützen und Hüte, die Hauben, die man wunderlich wie einen Hahnenkamm oder ein flammendes Feuer um den Kopf drapiert. Je feierlicher, desto ausschweifender; denn dieser ganze Aufputz bedeutet Staat”. Staat im doppelten Sinn auch von sich in Staat werfen, Staat machen, dessen Höhepunkt die Feste der burgundischen Herzöge darstellten. Laut Huizinga sollten sie Inszenierungen eines überkommenen heroisch-ritterlichen Ideals sein. Tourniere wurden als Schaukämpfe vorgeführt und überbordende Bankette abgehalten, deren wüsteste Übertreibungen in den entremets oder Zwischengängen gipfelten. Zur dritten Hochzeit von Philipps Sohn und Nachfolger Karl dem Kühnen wurde als Tafelaufsatz eine 46 Fuß hohe Nachbildung des Turms von Schloss Gorkum hereingetragen, auf der als Wildschweine kostümierte Musikanten Jagdhörner bliesen, die Leibzwergin der Braut ritt auf einem vergoldeten Löwen in den Saal. Bei seinem berühmten Fasanenfest in Lille hatte Philipp le Bon ein 28-köpfiges Orchester in einer riesigen Pastete aufgetischt. Der Lebensstil von Burgund steht, in einem Wort, für jenseits der Ekelschwelle auftrumpfende Geschmacklosigkeit.

“Der maßlose Hochmut von Burgund!” bricht es angesichts all dessen aus Huizinga hervor. “Kein Leben jener Zeit scheint so erfüllt von irdischem Hochmut und prahlender Genußsucht... wie das Philipps des Guten.” Dabei war “der ganze Apparat ritterlichen Prunkes längst nicht mehr von wirklichem Leben erfüllt... Überladener Prunk und Etikette sollten den innerlichen Verfall der Lebensform überdecken.” In dem wirklichen Gefecht bei Saint Richier ließ der Herzog seine Prunkrüstung lieber von einem anderen tragen und wappnete sich selbst ganz unauffällig.

Auf der im burgundischen Zeitalter bebauten Grand place in Brüssel mit ihrem Rathaus aus den Tagen Philipps und den goldüberzuckerten Gildehäusern (von denen etliche jedoch nach der französischen Bombardierung von 1695 in historisierendem Barock oder spätem 19. Jahrhundert wiederaufgebaut wurden) erkennt man noch den Abglanz jener Epoche wieder, in der “Pracht die Schönheit verdrängen” wollte. Diese “flamboyante Gotik... löst alle Formen in Selbstzergliederung auf. Es ist ein ungebundenes Wuchern der Form über die Idee.”

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