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Mittwoch, 13. Februar 2008
Spätes Mittelalter in Gouda
Vor dem massigen Baukörper von Hollands längster Kreuzkirche verschwindet es beinah, und fast schmalbrüstig zeigt es der spitzen Seite des Markts seine Fassade. Mit seinen hohen Fenstern, den zierlichen Fialen, Spitztürmchen und dem filigranen Maßwerk beherrscht das Rathaus von Gouda dennoch den großen dreieckigen Marktplatz auf die gleiche elegante, wenn nicht gar lässig aufreizende Weise wie jene schlanken gotischen Stifterfiguren, mit denen es auch die Zeit seiner Entstehung gemein hat.
Es war eine Zeit, in der Männer Strumpfhosen trugen, “daz sî wie gelîmet sazen”, um ihre langen Beine zu zeigen, und in der sich die Frauen die Augenbrauen und den Haaransatz zupften, um das Gesicht künstlich höher erscheinen zu lassen. Eine Epoche, die der niederländische Historiker Johan Huizinga jedoch als “Absterben des Überlebten”, als Herbst des Mittelalters betitelte, in der er aber ebenso Zeugnisse einer Verspieltheit und eines Schönheitssinns fand, der in vielem schon den Geist der Renaissance vorwegnahm. “Das Streben nach einem Leben in Schönheit gilt als das eigentliche Kennzeichen der Renaissance... Aber die Grenze zwischen Mittelalter und Renaissance ist auch hier zu scharf gezogen worden. Der leidenschaftliche Sinn, das Leben selbst mit Schönheit zu umkleiden, die verfeinerte Lebenskunst... sie alle sind viel älter als das italienische Quattrocento... Das ganze aristokratische Leben des späteren Mittelalters... ist der Versuch, einen Traum zu spielen. Kern des ritterlichen Ideals bleibt der zur Schönheit erhobene Hochmut... Das spätere Mittelalter ist eine der Endperioden, in denen das kulturelle Leben der höheren Kreise fast ganz zum Gesellschaftsspiel geworden ist. Die Wirklichkeit ist heftig, hart und grausam; man führt sie auf den schönen Traum des Ritterideals zurück und errichtet darauf das Lebensspiel - ein ungeheurer Selbstbetrug, dessen schmerzende Unwahrheit nur dadurch ertragen werden kann, daß leiser Spott die eigene Lüge verleugnet.”
Die Wirklichkeit jener Zeit war tatsächlich hart und grausam, denn es darf nicht vergessen werden, dass die Generationen nach der Mitte des 14. Jahrhunderts unter einem ungeheuren Schock leben mussten; der urplötzlich auftretenden, vorher noch nie dagewesenen und wie rasend und wahllos um sich greifenden Pest.
Im Oktober des Jahres 1347 war ein genuesisches Handelsschiff, dessen Besatzung an fremdartigen schmerzenden Schwellungen in Achselhöhlen und Leisten litt, auf der Rückreise von der Krim in Messina eingelaufen. Binnen Tagen war die ganze Stadt, bald auch Italien infiziert, die Angesteckten starben so rasch wie unweigerlich, und es soll Fälle gegeben haben, in denen die ans Krankenbett gerufenen Ärzte noch vor den Patienten tot umfielen. Priester trauten sich aus Angst vor Ansteckung nicht mehr, Sterbesakramente zu erteilen, und der Papst verkündete für alle Seuchenopfer eine Generalabsolution, weil die Überlebenden nicht einmal mehr mit dem Beerdigen nachkamen. Im Verlauf nur zweier Jahre (1348/49) breitete sich die Pest von Sizilien bis Norwegen über ganz Europa aus. Der größte Chronist des Zeitalters, Jean Froissart, resümierte apathisch: “Ein Drittel der Welt starb.”
Moderne demographische Schätzungen bestätigen dies als europaweiten Mittelwert. Auf die heutige Bevölkerung Europas hochgerechnet, bedeutet das etwa so viel, als würden bei uns in den beiden nächsten Jahren mehr als 200 Millionen Menschen an Aids sterben. Kann man sich vorstellen, wie mitleidslos die Überlebenden angesichts der kranken und sterbenden Angehörigen und angesichts der in den Straßen unbestattet verwesenden Leichenhaufen abgestumpft sein müssen?
Da die eigentliche Krankheitsursache völlig unbekannt blieb, verdächtigte man wieder einmal die Juden. Unter dem Hetzruf “Hep! Hep! Hep!” (Hierusalem est perdita, Jerusalem ist verloren) trieb man sie von Carcassone bis Straßburg, Mainz und Antwerpen zusammen und lynchte sie zu Tausenden.
Viele, die die Pest überlebten, ergaben sich anscheinend hinterher einem hemmungslosen Lebensrausch. Unzählige Häuser standen mit allem Hausrat darin leer, man brauchte nur einzuziehen, Besitztümer lagen herrenlos auf der Straße und brauchten nur aufgehoben zu werden. Den gravierenden Mangel an Arbeitskräften nutzten Bauern und Tagelöhner, um Forderungen zu stellen, die von den Herren jedoch sofort brutal unterdrückt wurden. All das und mehr ist ausführlich nachzulesen in Barbara Tuchmans Der ferne Spiegel. “Die Überlebenden der Pest, die sich selbst weder vernichtet noch moralisch verbessert wiederfanden, konnten keinen göttlichen Zweck in den Leiden entdecken... Die Geister, die sich kritischen Fragen öffneten, konnten nie mehr zum Verstummen gebracht werden... Insofern mag der Schwarze Tod der unerkannte Geburtshelfer des modernen Menschen gewesen sein.”
Bei einem Augenzeugen der Pest, bei Boccaccio, findet man tatsächlich schon vernünftige Formulierungen eines Naturrechts, als dessen Begründer man gemeinhin erst im 17. Jahrhundert den Niederländer Hugo de Groot aus Delft ansieht. “Das natürliche Recht eines jeden, der auf Erden geboren ward, ist es aber, sein Leben, soviel er vermag, zu pflegen, zu erhalten und zu verteidigen”, erklärt etwa Pampinea zu Beginn des Decamerone, das Boccaccio 1348 in Florenz begann, während die Pest in der Stadt wütete; und mit dieser Begründung bewegt sie ihre Freundinnen und Freunde, der im Seuchenfieber brennenden Stadt mit all ihrem Leid den Rücken zu kehren und sich auf dem Land in Sicherheit zu bringen. “Worauf warten, wovon träumen wir? Hier verlassen wir niemand, vielmehr können wir umgekehrt uns verlassen nennen, da die Unsrigen, sterbend oder dem Tod entfliehend, uns in so großem Elend alleingelassen haben.” Auf einem angenehmen Landsitz mit einem hübschen Palazzo und blühenden Gärten vertreiben sie sich bekanntlich die Wartezeit auf das Ende der Pest mit Kränzeflechten, Tanzen und dem fröhlichen Erzählen ergötzlicher Geschichten.
“Die müde Aristokratie belacht ihr eigenes Ideal”, schreibt Huizinga über diese Zeit. “Nachdem sie mit all ihren Mitteln der Phantasie, der Kunstfertigkeit und des Reichtums ihren leidenschaftlichen Traum vom schönen Leben aufgeputzt, angemalt und in plastische Form gebracht hatte, besann sie sich, daß das Leben doch eigentlich nicht so schön sei, und lachte.” - Diese Menschen sahen nach der Pest vielleicht ihr ganzes Leben in Trümmern liegen und lachten? Lachten über die eigene Lebensweise? In der Tat, Ritter, die in voller Rüstung Schnecken bekämpfen, und Pfaffen, die leichtgläubige Vögelchen mit der Leimrute fangen, belegen dieses selbstironische Gelächter. Zu sehen sind solche Szenen unter anderem im kostbarsten Buch des 15. Jahrhunderts, dem Stundenbuch des Herzogs von Berry (Les Très Riches Heures du Duc de Berry), einem Prinzen aus dem Haus Valois. Seine ganzseitigen Monatsblätter zeigen jeweils Schlösser, die sich Jean le Magnifique in seinen Herzogtümern bauen ließ. Das Rathaus in Gouda könnte ihnen (in verkleinertem Maßstab) unmittelbar nachempfunden sein, und es fällt leicht, sich die auf den Stundenblättern abgebildeten Menschen auf dem Platz vor diesem Rathaus vorzustellen.
Es strahlt die gleiche verspielte Grazie aus wie sie.
Es war eine Zeit, in der Männer Strumpfhosen trugen, “daz sî wie gelîmet sazen”, um ihre langen Beine zu zeigen, und in der sich die Frauen die Augenbrauen und den Haaransatz zupften, um das Gesicht künstlich höher erscheinen zu lassen. Eine Epoche, die der niederländische Historiker Johan Huizinga jedoch als “Absterben des Überlebten”, als Herbst des Mittelalters betitelte, in der er aber ebenso Zeugnisse einer Verspieltheit und eines Schönheitssinns fand, der in vielem schon den Geist der Renaissance vorwegnahm. “Das Streben nach einem Leben in Schönheit gilt als das eigentliche Kennzeichen der Renaissance... Aber die Grenze zwischen Mittelalter und Renaissance ist auch hier zu scharf gezogen worden. Der leidenschaftliche Sinn, das Leben selbst mit Schönheit zu umkleiden, die verfeinerte Lebenskunst... sie alle sind viel älter als das italienische Quattrocento... Das ganze aristokratische Leben des späteren Mittelalters... ist der Versuch, einen Traum zu spielen. Kern des ritterlichen Ideals bleibt der zur Schönheit erhobene Hochmut... Das spätere Mittelalter ist eine der Endperioden, in denen das kulturelle Leben der höheren Kreise fast ganz zum Gesellschaftsspiel geworden ist. Die Wirklichkeit ist heftig, hart und grausam; man führt sie auf den schönen Traum des Ritterideals zurück und errichtet darauf das Lebensspiel - ein ungeheurer Selbstbetrug, dessen schmerzende Unwahrheit nur dadurch ertragen werden kann, daß leiser Spott die eigene Lüge verleugnet.”
Die Wirklichkeit jener Zeit war tatsächlich hart und grausam, denn es darf nicht vergessen werden, dass die Generationen nach der Mitte des 14. Jahrhunderts unter einem ungeheuren Schock leben mussten; der urplötzlich auftretenden, vorher noch nie dagewesenen und wie rasend und wahllos um sich greifenden Pest.
Im Oktober des Jahres 1347 war ein genuesisches Handelsschiff, dessen Besatzung an fremdartigen schmerzenden Schwellungen in Achselhöhlen und Leisten litt, auf der Rückreise von der Krim in Messina eingelaufen. Binnen Tagen war die ganze Stadt, bald auch Italien infiziert, die Angesteckten starben so rasch wie unweigerlich, und es soll Fälle gegeben haben, in denen die ans Krankenbett gerufenen Ärzte noch vor den Patienten tot umfielen. Priester trauten sich aus Angst vor Ansteckung nicht mehr, Sterbesakramente zu erteilen, und der Papst verkündete für alle Seuchenopfer eine Generalabsolution, weil die Überlebenden nicht einmal mehr mit dem Beerdigen nachkamen. Im Verlauf nur zweier Jahre (1348/49) breitete sich die Pest von Sizilien bis Norwegen über ganz Europa aus. Der größte Chronist des Zeitalters, Jean Froissart, resümierte apathisch: “Ein Drittel der Welt starb.”
Moderne demographische Schätzungen bestätigen dies als europaweiten Mittelwert. Auf die heutige Bevölkerung Europas hochgerechnet, bedeutet das etwa so viel, als würden bei uns in den beiden nächsten Jahren mehr als 200 Millionen Menschen an Aids sterben. Kann man sich vorstellen, wie mitleidslos die Überlebenden angesichts der kranken und sterbenden Angehörigen und angesichts der in den Straßen unbestattet verwesenden Leichenhaufen abgestumpft sein müssen?
Da die eigentliche Krankheitsursache völlig unbekannt blieb, verdächtigte man wieder einmal die Juden. Unter dem Hetzruf “Hep! Hep! Hep!” (Hierusalem est perdita, Jerusalem ist verloren) trieb man sie von Carcassone bis Straßburg, Mainz und Antwerpen zusammen und lynchte sie zu Tausenden.
Viele, die die Pest überlebten, ergaben sich anscheinend hinterher einem hemmungslosen Lebensrausch. Unzählige Häuser standen mit allem Hausrat darin leer, man brauchte nur einzuziehen, Besitztümer lagen herrenlos auf der Straße und brauchten nur aufgehoben zu werden. Den gravierenden Mangel an Arbeitskräften nutzten Bauern und Tagelöhner, um Forderungen zu stellen, die von den Herren jedoch sofort brutal unterdrückt wurden. All das und mehr ist ausführlich nachzulesen in Barbara Tuchmans Der ferne Spiegel. “Die Überlebenden der Pest, die sich selbst weder vernichtet noch moralisch verbessert wiederfanden, konnten keinen göttlichen Zweck in den Leiden entdecken... Die Geister, die sich kritischen Fragen öffneten, konnten nie mehr zum Verstummen gebracht werden... Insofern mag der Schwarze Tod der unerkannte Geburtshelfer des modernen Menschen gewesen sein.”
Bei einem Augenzeugen der Pest, bei Boccaccio, findet man tatsächlich schon vernünftige Formulierungen eines Naturrechts, als dessen Begründer man gemeinhin erst im 17. Jahrhundert den Niederländer Hugo de Groot aus Delft ansieht. “Das natürliche Recht eines jeden, der auf Erden geboren ward, ist es aber, sein Leben, soviel er vermag, zu pflegen, zu erhalten und zu verteidigen”, erklärt etwa Pampinea zu Beginn des Decamerone, das Boccaccio 1348 in Florenz begann, während die Pest in der Stadt wütete; und mit dieser Begründung bewegt sie ihre Freundinnen und Freunde, der im Seuchenfieber brennenden Stadt mit all ihrem Leid den Rücken zu kehren und sich auf dem Land in Sicherheit zu bringen. “Worauf warten, wovon träumen wir? Hier verlassen wir niemand, vielmehr können wir umgekehrt uns verlassen nennen, da die Unsrigen, sterbend oder dem Tod entfliehend, uns in so großem Elend alleingelassen haben.” Auf einem angenehmen Landsitz mit einem hübschen Palazzo und blühenden Gärten vertreiben sie sich bekanntlich die Wartezeit auf das Ende der Pest mit Kränzeflechten, Tanzen und dem fröhlichen Erzählen ergötzlicher Geschichten.
“Die müde Aristokratie belacht ihr eigenes Ideal”, schreibt Huizinga über diese Zeit. “Nachdem sie mit all ihren Mitteln der Phantasie, der Kunstfertigkeit und des Reichtums ihren leidenschaftlichen Traum vom schönen Leben aufgeputzt, angemalt und in plastische Form gebracht hatte, besann sie sich, daß das Leben doch eigentlich nicht so schön sei, und lachte.” - Diese Menschen sahen nach der Pest vielleicht ihr ganzes Leben in Trümmern liegen und lachten? Lachten über die eigene Lebensweise? In der Tat, Ritter, die in voller Rüstung Schnecken bekämpfen, und Pfaffen, die leichtgläubige Vögelchen mit der Leimrute fangen, belegen dieses selbstironische Gelächter. Zu sehen sind solche Szenen unter anderem im kostbarsten Buch des 15. Jahrhunderts, dem Stundenbuch des Herzogs von Berry (Les Très Riches Heures du Duc de Berry), einem Prinzen aus dem Haus Valois. Seine ganzseitigen Monatsblätter zeigen jeweils Schlösser, die sich Jean le Magnifique in seinen Herzogtümern bauen ließ. Das Rathaus in Gouda könnte ihnen (in verkleinertem Maßstab) unmittelbar nachempfunden sein, und es fällt leicht, sich die auf den Stundenblättern abgebildeten Menschen auf dem Platz vor diesem Rathaus vorzustellen.
Es strahlt die gleiche verspielte Grazie aus wie sie.
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