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Dienstag, 10. Juli 2012
Böhmisches Seewetter

Anselm Kiefer: Böhmen liegt am Meer (1995/96)

“Und nun noch ein Blick aufs Wetter.” Ja, es ist ein nicht zu unterschätzendes Gesprächsthema, auf dessen kommunikative und narrative Funktionen Ihr Laubacher Feuilleton gebührend hinweist, werter Herr Stubenzweig. Gewichtige Zeugen und Belege von Robert Musil bis Karl-Heinz Köpcke werden dort angeführt, und selbst der alte Schüttelspeer findet Erwähnung: “bei Shakespeare zeigt es immer das Wetter an, wenn der Säftehaushalt im Mikro- oder Makrokosmos nicht stimmt”.
Die Beobachtung ist sicher richtig, aber trotzdem: Shakespeare? Macht es einen Autor nicht schwerer Unzuverlässigkeit verdächtig, wenn er sich – wie die Bibel – als Zitatenlieferant für buchstäblich alles und jedes verwerten läßt? Was läßt sich denn, frage ich mich, mit Shakespeare nicht belegen? Der war sich doch für nichts Hahnebüchenes zu schade. Ich führe nur eines der bekanntesten Beispiele an: “our ship hath touch'd upon / The deserts of Bohemia.
Wer’s nicht kennt, reibt sich ungläubig die Äuglein. Doch in der Tat, bei Shakespeare liegt Böhmen, eine der binnenländischsten Regionen Mitteleuropas, am Meer. Unmißverständlich auch die Regieanweisung in Shakespeares Wintermärchen über der dritten Szene des dritten Akts: Bohemia. A desert country near the sea. “Böhmen, eine wüste Gegend am Meer”, übersetzte Wieland texttreu und (hoffentlich) wider besseres Wissen.

Daß Böhmenkönig Ottokar II. Přemysl 1269 durch Erbvertrag Kärnten und die slowenische Krajina an sich gebracht hat und sein Einfluß damit bis an die Adria heranreichte, wird man kaum gelten lassen dürfen. Die Episode war dafür denn doch etwas zu kurzlebig. Gerade weil er sich so breit machte, unterlag Ottokar bei der Wahl zum deutschen König 1273 gegen Rudolf von Habsburg, kam in die Reichsacht, als er seine Niederlage nicht anerkennen wollte, und mußte nach einem Aufstand gegen ihn schon 1276 im Frieden von Wien auf seine sämtlichen Ansprüche außerhalb Böhmen-Mährens verzichten.

Etwaige historische Verhältnisse braucht man zugunsten Shakespeares auch gar nicht zu bemühen, gilt es doch längst als erwiesen, daß er auch in diesem Fall wieder einmal lediglich nur geklaut und schlecht abgeschrieben hat. Diesmal aus Robert Greenes Novelle Pandosto von 1588, in der auch Schlesien, Silesia, irrtümlich mit Sicilia verwechselt wurde und der Titelheld “provided a navy of ships and sailed into Bohemia”.
“It was this close following of his model that led Shakespeare into many of his anachronisms and geographical errors”, stellte der Herausgeber des Pandosto, Percy G. Thomas, fest. “No doubt, Shakespeare, in his indifference to such matters, went one more than the novelist”.
Der Erste, der sich über des größten Dramatikers aller Zeiten mangelnde Grundlagenkenntnisse in Erdkunde lustig machte, war natürlich sein Rivale Ben Jonson. Als er sich im Winter 1618/19 bei seinem schottischen Landsmann William Drummond auf dessen Burg Hawthorne Castle in Midlothian aufhielt, ließ er bei den Tischgesprächen die Bemerkung fallen: “Sheakspear, in a play, brought in a number of men--, saying they had suffered Shipwrack in Bohemia, wher ther is no sea neer by some ioo miles.”
Das wußte damals jeder; im gleichen Jahr war schließlich der Prager Fenstersturz in aller Munde. Und die Herren Slavata, Fabricius und von Martinitz waren offenkundig nicht ins Meer, sondern nur in den Graben der Prager Burg gestürzt.

Aber was schert die Wirklichkeit schon die Dichter? Natürlich haben sie aus Shakespeares Bock noch poetische Filetstückchen geschnitten.

Grenzt hier ein Wort an mich, so laß ich's grenzen.
Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder...
Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehn.
Zugrund - das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder.

So kleidete Ingeborg Bachmann 1964 Zweifel und Hoffnungen in ein schönes Gedicht mit dem Titel “Böhmen liegt am Meer”; es inspirierte Anselm Kiefer zu seinem obigen Gemälde.

Wie waren wir überhaupt auf all das gekommen? Ach ja, das Wetter...

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Brauch oder Mißbrauch
ist hier die Frage nach dem Sein oder Nichtsein oder auch nicht, warum der Mensch soviel Zeit mit dem Tragen von digitalen Armbanduhren verbringt. Ihre Illustration beispielsweise führte mich spontan oder auch sofort auf den Weg zu Anselm Kiefer. Vermutlich malte nur einer so wie er. Daß er sich dabei auf Ingeborg Bachmanns Gedicht bezog, das war mir, schamvoll gestehe ich es, bislang nicht bekannt. Man kann nur lernen, bei Ihnen allemale.

Der Wetter-Autor ist entschuldigt. Er ist sowohl in Anglistik, Germanistik und Kunstgeschichte firm, beinahe zahllose Aufsätze hat er mittlerweile zu diesen Themata veröffentlcht, er gehört zu den meines Erachtens wichtigeren Publizisten, seine Texte insbesondere zur Kunst gehören zu denen, die ich immer mit Vergnügen lese, er wurde mit einer Arbeit über Rilke und Cézanne promoviert, seine Habilitation hatte das Thema «Das optische Wissen. Eine Geschichte des Auges in Literatur, Malerei, Physiologie und Medizin», seit vielen Jahren lehrt er sogar an einer recht ordentlichen Universität (ich habe den veralteten Link zu seiner Seite ersetzt), die ihn, nun war sogar ich überrascht, daß er diese Strecke tatsächlich noch bewältigt hat, er befürchtete, für die Lehre auswandern zu müssen, dabei hängt er so an seinen Stiudenten, im April zum Professor ernannt hat, wenn auch außerplanmäßig, aber immerhin, auf jeden Fall verdient, denn das hat er hat wahrlich erbracht: «hervorragende Leistungen in der beruflichen Praxis bei der Anwendung oder Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden oder hervorragende Leistungen in Forschung, Kunst und Lehre [...], die den Anforderungen für hauptberufliche Professorinnen und Professoren entsprechen».

Und Ihnen hat's einmal mehr zu einem, auch für mich schönen Ausflug gereicht. Hoffentlich ist Ihnen das niederländische Wetter mittlerweile angenehmer. Im Holsteinischen ist soeben die Sonne aufgegangen. Jedenfalls für voraussichtlich zehn Minuten.

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