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Samstag, 16. Januar 2010
«m'pa kapab»
"Zu Port au Prince, auf dem französischen Anteil der Insel St. Domingo, lebte, zu Anfange dieses Jahrhunderts, als die Schwarzen die Weißen ermordeten, auf der Pflanzung des Herrn Guillaume von Villeneuve, ein fürchterlicher alter Neger, namens Congo Hoango."
(Heinrich von Kleist: Die Verlobung in San Domingo, 1811)

Natürlich hat mich das grauenhafte Erdbeben in Haiti genauso betroffen gemacht wie viele andere, und bestürzt und ebenso hilflos verfolge ich die Berichterstattung über diese Katastrophe allergrößten Ausmaßes. Eine Meldung unter den vielen, die umherschwirren, hat mich noch zusätzlich verwirrt und zunächst ratlos gemacht. Das isländische Fernsehen zitierte gestern den Fotografen Shaul Schwarz vom amerikanischen Magazin Time, an mindestens zwei Stellen hätten wütende Überlebende in Port-au-Prince Barrikaden aus Leichen errichtet, die das Vorankommen von Hilfstrupps in der völlig verwüsteten Stadt noch zusätzlich erschwerten. Deutsche Zeitungen meldeten heute das Gleiche:
Aufgebrachte Überlebende türmten aus Protest gegen die Zustände Hunderte Leichen zu Barrikaden auf.”
Ich frage mich, welche Verzweiflung und selbstzerstörerische Wut sich in den Menschen dort angesammelt haben muß, um in dieser Lage noch selbst die Helfer auf dem Weg zur eigenen Rettung zu behindern. Ebenso habe ich mich gefragt, woher es kommt, daß offenbar viele Haitianer sich vor allem darüber aufregen, daß nicht sofort ausländische Hilfe zur Stelle ist. Derartiges habe ich nicht unter den überlebenden Opfern der Tsunami-Katastrophe in Indonesien gesehen, nicht nach dem Erdbeben im Iran 2003 mit über 40.000 Toten oder an anderen Katastrophenorten, an die ich mich erinnere. Es scheint also ein speziell in haitianischen Köpfen steckendes Denkschema zu sein, das nicht vor allem Selbsthilfe in Aktion setzt, sondern auf Hilfe von außen warten läßt. In der Neuen Zürcher fand ich nun eine Bestätigung dieser Vermutung.
«m'pa kapab», die haitianisch-kreolische Verkürzung von “mois, je ne suis pas capable”, auf Deutsch “ich kann doch nichts dafür”, “ist das kreolische Schlüsselwort, mit dem man zuverlässig Helfer herbeiruft”, schreibt Nicoletta Wagner heute in der NZZ. Selbstverantwortung sei dagegen ein Fremdwort. “Kaum ein anderes Land hat sich so sehr an fremde Hilfe gewöhnt wie Haiti... Das von Diktaturen und Despoten geplagte Land hat in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts Milliarden an Hilfsgeldern geschluckt, die in keinem Verhältnis stehen zu den erreichten Fortschritten.”
Ein anscheinend informierter Leser schickte dazu folgenden Kommentar: “Das entscheidende Problem Haitis wird in dem Artikel leider verschwiegen. Die schlimmste Plage und die Hauptursache der Misere ist die Überbevölkerung Haitis, das mit ca. 320 Einwohnern je km extremst überbevölkert ist (Zum Vergleich Niederlande ca. 400). Und das ohne nennenswerte Industrie in einem weitgehend agrarisch geprägten Land. Durch Raubbau kommt es zu einer fortschreitenden Vernichtung von Anbauflächen, was zu einem physischen Untergang des Landes führt. Haiti wird niemals in der Lage sein, diese Bevölkerung durch eigene Landwirtschaft zu ernähren und ist deshalb immer auf Hilfe von aussen angewiesen. Haiti braucht deshalb als Grundlage jeder weiteren Hilfe ein intensives Program zur Geburtenkontrolle. Nur wenn es gelingt, die Bevölkerungszahl auf ein für dieses Land zuträgliches Mass zu reduzieren, haben die Menschen in Haiti eine Chance auf ein halbwegs erträgliches menschenwürdiges Leben.”
Das klingt höchst plausibel. Andernorts ist dann noch zu erfahren, daß die nicht weniger als 4 Wirbelstürme, die Haiti allein im Jahr 2008 überzogen, mehr als 70% der ohnehin überstrapazierten Ackerfläche verwüsteten. Die britische Historikerin Alex von Tunzelmann, die gerade an einem Buch über Haiti arbeitet, ist allerdings überzeugt, daß Haitis Misere nicht erst der Bevölkerungsexplosion der letzten Jahrzehnte geschuldet sei. Das Land habe heute 9 Millionen Einwohner. In den 1950er Jahren habe es lediglich ein Drittel davon gehabt und schon damals als hoffnungslos überbevölkert gegolten. Wie meist, wenn sich ein bestimmtes Denken in den Köpfen einer ganzen Bevölkerung festgesetzt hat, liegen Anfänge und Ursachen geraume Weile zurück. “What has really left Haiti in such a state today, what makes the country a constant and heart-rending site of recurring catastrophe, is its history”, heißt es in einem Artikel im Guardian, den ich für den erhellendsten Hintergrundbericht zur katastrophalen Lage Haitis halte, der mir im ganzen aktuellen Presserummel um das Land bisher untergekommen ist. Sehr zur Lektüre empfohlen:

Haiti: a long descent to hell

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